Elfental


Wien, August 2007

Mit einem gewaltigen Donnerschlag färbte sich der gesamte Himmel blutrot und die Sterne fielen hinab gleich Hagelkörnern in einem spätsommerlichen Gewitter. Zahllose Engelwesen wurden wie Wolkenfetzen bald hierhin, bald dorthin gerissen und etliche von ihnen schlugen hart auf und fanden ein schlimmes und elendes Ende. Schon wieder war ein Herz zerbrochen. Schon wieder war es ein Herz in der Menschenwelt gewesen, das nach einem letzten, verzweifelten Aufbäumen erst mitten entzwei riß und dann in tausend Stücke ging.
Das Rot des Himmels ging rasch über in ein dunkles Braun während es von oben mehr und mehr schwarz herabdämmerte. Die kleinen Blumenelfen konnten ihren Schein nicht länger halten und vergingen wie Obstfliegen in einer Sturmflut.
Es ging alles sehr schnell, Taubheit machte sich breit. Augen erloschen.
"Es ist bestimmt besser so, Du wirst schon sehn", vernahm man eine sanfte Stimme in millionenfachem Echo durch die Himmel der sich anbahnenden Graunacht.
Dumpfes Halbdunkel.
Die Augen zum Weinen zu trocken.

"Was ist passiert?", fragte eine kleine Elfe, die im Schutze eines selbstlosen Gedankens überlebt hatte, ihre Mutter: "Ein Mensch hat aufgehört, an uns zu glauben", erwiderte diese. "Für ihn ist es nun Graunacht geworden. Für ihn und für uns alle, die wir mit und in ihm leben." "Wird das für lange sein?", kam es leicht verhalten zurück, denn von der einst so bunten und farbenfrohen Lichterwelt war alles in ein stickig graues Nebelmeer übergegangen, in dem kein Vorwärts und kein Rückwärts sich mehr ergab; nicht einmal, wenn man danach suchte oder darum stritt.

Die Mutter blickte lang und ernst in Richtung ihres Mädchens, das noch immer im Schutze des sebstlosen Gedankens gut zu sehen war. Sie holte zweimal tief Luft, von der sie grau aufhusten musste, denn es war nicht gut, tief einzuatmen solange es Graunacht war. Die Grauluft höhlt einen schneller und tiefer aus, je mehr man nach Atem ringt.

"Er muß wieder lieben, mein Kind", kam es mit einer für eine Elfe unglaublich schweren Stimme dann doch noch hervor. "Er muß wieder lieben lernen. Solange er dafür braucht, solange wird es dauern."
"Aber das ist doch ganz einfach!", strahlte da das Kleine auf, das außer zu lieben nie etwas anderes gelernt oder je im Sinne gehabt hatte. Posierlich zupfte es sein Kleidchen zurecht, klopfte den Graustaub ab, klopfte den Graustaub ab, klopfte den Graustaub ab... und hielt dann jäh inne. "Der Staub kommt immer wieder nach, Mama!", drückte es mit nahezu weinerlicher Stimme heraus. "Ja, mein Kind und nicht nur das. Es wird auch schon bald in uns drinnen alles ganz grau werden und dann werden auch wir erlöschen - wir beide - Du und ich, und alle übrigen, die noch in ihm die letzten Minuten ihrer alten Heimat schwinden sehen. Erst muß es ganz dunkel in ihm werden, bevor er wieder aufs neue nach dem Licht und nach dem Leben horchen kann."

"Nein!", brach da das Kleine wild entschlossen hervor und ein samtener, lichtblauer Schein umgab aufs Neue den selbstlosen Gedanken, in dessem Schutze es noch immer stand. Alles Grau war von ihm abgeperlt. "Nein", kam da erneut, "Nein, denn ich beschütze ihn!" und sein Licht drang bis hin zu seiner um Luft ringenden Mutter. "Nein, nein, nein!" Glockenhell drang sein silbernes Stimmchen bis weit hinein ins stickige Grau. "Und nochmals nein! Nein, nein, nein!" Matt blickte die Mutter es aus erlöschenden Augen an, matt und stumm. Es war das Letzte, was sie sah und hörte, bevor sie in das Licht zurückging, aus dem sie Gestalt angenommen hatte. Denn es ist das Licht, das war, bevor etwas war und es ist das Licht, das auch noch sein wird, wenn längst nichts mehr sein sollte. Das Licht eben, aus dem die Elfen geboren werden und wohin sie auch spurlos wieder verschwinden. Die Elfen sind dieses Licht und nehmen nur da und nur solange Gestalt an, wie sie gerufen und gebraucht werden. Hier, in den Schleiern der Graunacht war es für die meisten der Elfen nun Zeit geworden, Abschied von der Existenz zu nehmen.

Niemand weiß, wieviel Zeit seither vergangen war.
Stumm und tapfer hielt die kleine Elfe auch weiterhin fest an ihrem selbstlosen Gedanken und in tiefblauer Ummäntelung strahlte noch immer ihre sternenhafte Klarheit in die gleichfalls stumme Düsternis der nimmer enden wollenden Graunacht hinein.

"Was willst Du, kleiner Wichtel denn groß tun?", durchbrach irgendwann eine grausige Stimme die Stille. Da, wo die Stimme herkam, schien das Grau noch grauer, noch bedeutungsloser, noch stumpfer, so daß man von der Stumpfheit geradezu geblendet war und gar nicht hinblicken konnte. Eine Stelle im Dumpfen, die man nie gefunden hätte, hätte sie sich nicht von sich aus geäußert. Es war das Herz der Graunacht, das nun siegen wollte, das Herz der Graunacht, das in schlauer Bosheit mit geteilter Zunge nach der letzten kleinen Elfe stach. Da erhob das Elfenkind - das bis zu allerletzt vollkommen rein und vollkommen selbstlos geblieben war - noch einmal seine Stimme. Aus der nimmer enden wollenden Tiefe seiner stillen Klarheit gebar es erst einen Laut, dann eine Silbe, und der Laut trug die Silbe bis hinauf empor zu den höchsten Höhen des Seins und es schallte von dort millionenfach zurück in abertausend Stimmen bis hinunter ins tiefste Dunkel des Abgrunds hinab, vor dem der Grautag nur wie ein sanfter Nebelschleier lag, den selbst der leiseste Lufthauch ohne weiteres hätte hinwegtragen können.

Und von dort unten quoll ein erst dumpfes, dann immer klareres, tiefes Dröhnen Fels um Fels, Kluft um Kluft nach oben. Steine barsten, Schluchten stürzten ein. Donnergrollen aus der Tiefe im direkten Widerhall mit den feinsten Klängen aus Trillionen Körnern aus Sonnen und Mondenstaub gesungen. Dann ein greller Blitz, das Grau strahlte hellweiß auf, wurde durchsichtig und ging über in schwarzblaue Kristallnacht, über und über voll mit Sternenmeeren.

Eine kleine Elfe hatte sich erhoben, sie war aus reinster Liebe zur Ewigen des Himmels geworden. - Und unten auf der Erde blickten zwei Stumme, tief gewordene Augen neuer Liebe entgegen, Augen voller Sterne, ein Himmelszelt als Herz.

 

Autor: Kilian Sternad